Mo, 6. Nov. 2023
Entgegen den schlimmsten Befürchtungen ist der Schweiz im letzten Winter nicht die Energie ausgegangen. Und die Situation hat sich seither sogar weiter entspannt. Trotzdem geben die Experten keine Entwarnung für diesen Winter.
Im Moment sieht es gut aus: Die Versorgung mit Strom, Gas, Heizöl und Benzin in der Schweiz ist gewährleistet. So sind zum Beispiel alle vier Schweizer Kernkraftwerke am Netz und produzieren Strom, und die Stauseen sind im langjährigen Durchschnitt gefüllt. Auch in den Nachbarländern gibt es derzeit keine Probleme mit der Stromversorgung.
Die Schweiz kann also viel entspannter in die kalte Jahreszeit gehen als noch vor einem Jahr. "Die europäischen Gasspeicher sind fast vollständig gefüllt und die Verfügbarkeit der französischen Kernkraftwerke ist deutlich besser als im letzten Winter", sagte das Energieunternehmen Alpiq auf Anfrage der Nachrichtenagentur AWP. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach Strom und Gas deutlich zurückgegangen.
Wie kalt wird es werden?
Das heisst aber nicht, dass es im Winter nicht zu Engpässen kommen könnte. Die Erfahrungen aus dem letzten Jahr haben gezeigt, wie schnell sich die Einschätzungen ändern können, so zum Beispiel die BKW in Bern. "Es ist deshalb sicher gut, dass die Schweiz mit dem Notkraftwerk in Birr, der Wasserkraftreserve und dem Pool der Notstromaggregate Reserven für schwierige Situationen hat."
Die Situation auf dem Strommarkt bleibt fragil, auch weil er eng mit dem europäischen Gasmarkt verbunden ist, so die Experten von Alpiq. Versorgungsschocks auf dem Gasmarkt könnten die Situation abrupt verändern - zum Beispiel durch Streiks oder Schäden an der Energieinfrastruktur.
Nicht zuletzt wird die Nachfrage im Winter auch stark durch das Wetter beeinflusst. Die Frage ist also: Wie kalt wird der Winter in Europa? Die Schweiz ist in den Wintermonaten auf Stromimporte aus dem Ausland angewiesen. In einem "eisigen" Winter "könnte der Strom durchaus knapp werden", sagt Tobias Habegger von der BKW.
Hohe Nervosität auf dem Markt
Die künftige Entwicklung der Wirtschaft ist ebenfalls ein Fragezeichen: Es ist nicht sicher, ob die Nachfrage in Europa gedrückt bleiben wird. Auch in Asien, vor allem in China, könnte die Nachfrage nach Gas aufgrund einer wirtschaftlichen Erholung steigen. Das Angebot an LNG könnte dann in Europa knapp werden, sagt Thomas Hegglin vom Verband der Schweizerischen Gaswirtschaft (VSG).
Es bleibt auch abzuwarten, ob im Winter noch russisches Gas nach Europa fließt. Laut Hegglin sind es derzeit rund zwölf Prozent. "Die Bemühungen, russisches Gas zu ersetzen, werden in Europa vorangetrieben und die LNG-Infrastruktur wird laufend optimiert, aber das geht nicht von heute auf morgen." Der kommende Winter wird auch der erste Winter ganz ohne deutschen Atomstrom sein.
All diese Unsicherheiten spiegeln sich auch auf den Märkten wider: "Wir beobachten eine grosse Nervosität und damit eine hohe Volatilität bei den Energiepreisen", sagt Noël Graber von der Axpo. Die Eskalation des Nahostkonflikts etwa könnte sich in den kommenden Wochen in höheren Preisen niederschlagen, sagt Habegger von der BKW. Der Konflikt überlagere das "ausgeglichene" Bild mit derzeit überdurchschnittlich warmen Temperaturen, hoher Windproduktion, vollen Gasspeichern und hoher Kraftwerksverfügbarkeit.
Energiekrise noch nicht vorbei
Die Marktpreise für Strom und Erdgas befinden sich zwar nicht mehr auf dem extremen Rekordniveau von 2022, haben sich aber deutlich von diesen Höchstständen entfernt und sind immer noch höher als vor dem ersten sehr spürbaren Anstieg seit Herbst 2021. Und mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 sind die Preise weiter explodiert.
"Die Preise haben sich im Vergleich zu den Jahren vor 2021 auf einem überdurchschnittlichen Niveau stabilisiert", sagt der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) mit Blick auf den Strommarkt. Allerdings ist seit kurzem wieder ein leichter Aufwärtstrend zu beobachten, vermutlich wegen des Krieges im Nahen Osten. Die nach wie vor überdurchschnittlich hohen Preise sind aber auch ein Ausdruck dafür, dass "Europa die Energiekrise noch nicht überwunden hat".
©Keystone/SDA