Deutsche Minister unter Druck: Der neue Atomstreit
Veröffentlicht: Freitag, 26. Apr 2024, 15:30
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Ein Bericht zum Atomausstieg sorgt derzeit in Deutschland für Aufregung und setzt zwei Regierungsmitglieder unter Druck.
In Sondersitzungen der Bundestagsausschüsse in Berlin verteidigten dagegen Wirtschaftsminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke ihre Entscheidungen zum deutschen Atomausstieg.
Den Vertretern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist das nicht genug. "Es bleibt die begründete Vermutung, dass Habecks Ministerium das Gegenteil von dem getan hat, was der Minister öffentlich angekündigt hat. Eine Verdrehung der Tatsachen statt einer ergebnisoffenen Prüfung", sagte Andreas Jung, Sprecher für Klimaschutz und Energie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
Der "Cicero"-Artikel
Auslöser der aktuellen Kontroverse war ein Bericht des Magazins "Cicero", wonach im Frühjahr 2022 sowohl im Wirtschaftsministerium als auch im Umweltministerium interne Bedenken gegen den für das Folgejahr geplanten Atomausstieg unterdrückt worden sein sollen - was beide Ministerien bestreiten.
Das Wirtschaftsministerium wollte keine Dokumente herausgeben
Ein "Cicero"-Journalist kämpfte vor Gericht um die Herausgabe der Akten und bekam nach Angaben des Magazins am Ende "zwei gut gefüllte Ordner". Bis dahin hatte Habecks Bundeswirtschaftsministerium nur einen Teil der angeforderten Unterlagen herausgegeben und dies mit der Vertraulichkeit der Beratungen begründet, wie im Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts vom Januar dieses Jahres nachzulesen ist.
"Eine nachträgliche Offenlegung von Informationen, die vertraulich übermittelt wurden, hätte zur Folge, dass ein unvoreingenommener Meinungsaustausch in Zukunft nicht mehr möglich wäre", schreibt das Gericht zur Begründung des Ministeriums. Darüber hinaus wird die Rolle der Kernenergie in den Medien und in der Politik diskutiert.
Die Richter waren nicht überzeugt. Ihrer Ansicht nach konnte das Ministerium nicht begründen, warum die Veröffentlichung die künftige Meinungsbildung innerhalb der Bundesregierung beeinträchtigen würde.
Das umstrittene Papier
In einem Entwurf eines Vermerks vom 3. März 2022 argumentierten Mitarbeiter von Habecks Ministerium, dass unter bestimmten Umständen eine befristete Laufzeitverlängerung der verbleibenden deutschen Kernkraftwerke bis zum nächsten Frühjahr sinnvoll sein könnte. Sie rieten, diese Möglichkeit weiter zu prüfen. Ein Aspekt, der in dem vorliegenden Entwurf nicht diskutiert wurde, war die Frage nach der Sicherheit des Weiterbetriebs. Dies sei in erster Linie eine Frage der Energieversorgung. Das Papier liegt auch der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vor. Nach Angaben des Ministeriums hatte nur Staatssekretär Patrick Graichen, ein Parteikollege Habecks, der später nach Vorwürfen der Vetternwirtschaft zurücktreten musste, auf Leitungsebene Kenntnis von dem Papier - den Minister hätte es nicht erreicht.
Laut Habeck ist dies jedoch kein Problem. "Mein Unternehmen hat 2.400 Mitarbeiter", sagte der Minister am Freitag. Das Fachgespräch sei wichtig. Entscheidend seien für ihn aber die Gespräche mit den Kernkraftwerksbetreibern gewesen. "Das Entscheidende ist, dass ich in den wirklich relevanten Runden, und das sind die Runden mit den Betreibern, also RWE, ENBW und Eon, immer die richtigen Fragen stellen konnte. Und ich bin sicher, dass sie gestellt wurden." Damals hatten die Betreiber gesagt, dass die verfügbaren Brennelemente bis Ende des Jahres aufgebraucht sein würden. Diese Angabe wurde später korrigiert: "Dann haben sie gesagt, sie können noch zwei, drei, vier, fünf Monate länger laufen. Und die Betriebszeit wurde dann entsprechend verlängert."
Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums floss das Papier auch in einen später veröffentlichten Prüfbericht des Wirtschafts- und des Umweltministeriums ein, in dem diese sich gegen eine Laufzeitverlängerung aussprachen - mit Hinweis auf die "sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken", wie es in einer Pressemitteilung heißt.
Warum der Atomausstieg im Jahr 2022 erneut diskutiert wurde
Auslöser für die erneute Debatte war damals der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022, der zu einer dramatischen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland führte. Russland war zu diesem Zeitpunkt Deutschlands wichtigster Gaslieferant. Die Frage, was dies für die Energiesicherheit hierzulande bedeuten würde, stand also im Raum. Von September an floss praktisch kein russisches Gas mehr nach Deutschland.
Im Sommer argumentierte das Wirtschaftsministerium, dass Deutschland im Falle einer Gasknappheit ein Problem mit der Wärmeversorgung hätte - und nicht mit der Stromversorgung, die von Kernkraftwerken übernommen würde. FDP-Chef Christian Lindner und seine Parteikollegen konterten, dass auch ein kleiner Beitrag zur Energiesicherheit relevant sei.
Der Atomausstieg war im Frühjahr 2022 nicht populär: In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im März im Auftrag der Augsburger Allgemeinen sprachen sich 70% der Befragten für eine Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke aus. Im ARD-Deutschlandtrend vom April 2023 bewerteten 59% die Entscheidung zum Ausstieg aus der Kernenergie als falsch.
Ampelstreit um Atomkraft
Die Grünen, für die die Anti-Atom-Proteste früherer Jahre praktisch zu ihrem Gründungsmythos gehören, waren lange gegen einen Weiterbetrieb. Im Oktober stimmte ein Parteitag schließlich Habecks Vorschlägen zu, zwei der letzten drei deutschen Kernkraftwerke über den Jahreswechsel hinaus in Reserve zu halten und bei Bedarf kurzfristig wieder zur Stromerzeugung einzusetzen. Doch erst als sich Bundeskanzler Olaf Scholz zwei Tage später für einen befristeten Weiterbetrieb bis Mitte April 2023 aussprach, wurde der Streit beendet.
Die Vorgeschichte
So sehr der Atomausstieg den Grünen am Herzen liegt, so sehr wurde er von einer schwarz-gelben Regierung unter Angela Merkel nach der Atomkatastrophe in Fukushima 2011 beschlossen. Im Jahr 2022 waren noch drei Atomkraftwerke am Netz: Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim in Baden-Württemberg und das Kernkraftwerk Emsland in Niedersachsen. Ursprünglich sollten sie zum Jahreswechsel 2022/23 vom Netz gehen - doch das geschah erst einige Monate später, vor rund einem Jahr am 15. April.
©Keystone/SDA